UN/FRAMED

Die Ausstellung un/framed ist aus der Zusammenarbeit der «vielfaeltig» Produzentengalerie
und der Non-Profit-Organisation Swiss Fiber Arts entstanden und vereint die Werke von 29
Künstlerinnen aus 13 Ländern weltweit. Während es sich die gemeinschaftlich organisierten
Kunstschaffenden der Produzentengalerie zum Ziel gesetzt haben, Raum für Identität,
Verbindungen und Verbundenheit zu schaffen, setzt sich Swiss Fiber Arts dafür ein, dem
zeitgenössischen textilen Kunstschaffen in der Schweiz eine Plattform zu bieten und den
Erhalt des über Generationen gesammelten und weitergegebenen textilen Knowhows zu
sichern. Beide Vereinigungen initiieren und kuratieren deshalb regelmässig Ausstellungen,
sind an Messen vertreten und begleiten ihre Projekte mit Publikationen.
Jetzt aber zu dem, was die Ausstellung hier im Kunstraum Winterthur in ihrer Gesamtheit ist,
nämlich ein bemerkenswert reicher Ausdruck von handwerklichen und technischen
Fertigkeiten im Bereich der Textilkunst. Die hier zu sehenden Werke zeugen ebenso vom
hohen Materialbewusstsein der Künstlerinnen wie von ihrem Bewusstsein für die mit der
Textilkunst verbundene Tradition. Und dieses Bewusstsein, so scheint es mir, wird in
verschiedenen Arbeiten immer wieder deutlich, wenn es im Werkprozess darum geht, einen
gangbaren Weg zwischen Handwerk und Technologie auszuloten. Es zeigt sich auch eine
gewisse, dem Medium inhärente Nähe zum Textildesign und zur Textilindustrie, die Fragen
der Nachhaltigkeit und materiellen Innovation beschäftigen und die einige der Künstlerinnen
in ihren Werken und textilen Experimenten ebenso aufgreifen. Neben diesem kulturellen
Erbe der Textilkunst steht der freie Ausdruck und die Auseinandersetzung mit
unterschiedlichen künstlerischen Strömungen, wobei es nicht selten explizit darum geht, den
vorgegebenen Rahmen zu sprengen. Möchte man ein Merkmal des zeitgenössischen textilen
Kunstschaffens benennen, wie es sich in dieser Ausstellung präsentiert, so wäre es meiner
Ansicht nach, die Intermedialität der gezeigten Werke. Während sich die Künstlerinnen
herkömmlicher textiler Techniken, wie der Handstickerei, der Freihand-Maschinenstickerei,
der Perlenstickerei, dem Weben, Nähen und Häkeln bedienen, lassen sie allerlei Materialien
wie Baumrinde, Draht und unterschiedlichste Arten von Geweben in ihre Werke einfliessen,
die sie auch bemalen und zuweilen zu dreidimensionalen Gebilden heranwachsen lassen.
Ihre Werke zeichnet eine besondere Haptik aus, welche für die Betrachtenden spürbar
macht, dass der Entstehungsprozess der Werke Zeit und Beharrlichkeit fordert, auch wenn
viele der Künstlerinnen ohne Vorlage arbeiten. Über die Motive der Werke werden
einerseits explizit Geschichten erzählt, doch auch die Verwendung von Materialien wie
Secondhandstoffen verdichtet die Narrativität der Werke. Es entstehen Bilder
unterschiedlichster Lebenswelten und ich habe den Eindruck, dass der Moment des
Durchdringens, Verknüpfens und Verwebens in den hier zu sehenden Werken symbolisch für
die Verbundenheit der Künstlerinnen untereinander verstanden werden kann.
Mit hohem Anspruch auf Individualität verhandeln die Künstlerinnen Aušra Merkelytė,
Corinne Kühn, Heidi Suleiman, HsingMei Tsai und Maya Lörtscher unterschiedliche
Naturbegriffe, wobei gesellschaftskritische Ansätze ebenso vertreten sind wie Anlehnungen
an die chinesische Malerei oder realistische Landschaftsdarstellungen. Flora und Fauna
spielen ausserdem in den Werken von Anne Kelly, Barbara Hebel und Ella Richards eine
Rolle, die ihre Faszination für die ozeanische Unterwasserwelt in dreidimensionalen
Stickereien zum Ausdruck bringt. Diese Faszination verbindet sich in Imogen Rhodes-Davies’
Werken mit einem aktivistischen Anspruch, indem sie explizit auf das Problem der
Korallenbleiche verweist. Auch die intrinsische Kraft der Werke von Ayelet Lindenstrauss und
Harpa Jónsdóttir erfolgt aus ihrer präzisen textilen Umsetzung der von ihnen beobachteten
Naturphänomene. Jen Cable, Jolanda Drukker Murray und Ruth Harris hingegen zehren für
ihre Werke vom handwerklichen und materiellen Erbe ihrer Familien und verleihen ihren
teils skulptural angelegten Werken so eine autobiografische Note. Mit Erinnerungen arbeitet
wiederum auch Annette Wells Talsi und setzt Schmetterlinge als kathartisches Symbol der
Trauerüberwindung ein. Eine positive Umkehrung nehmen auch Karina Nøkleby Presttun
und Teija Patrikka in ihren Werken vor, indem sie Wegwerfmaterialien zu kunstvollen
Geweben verarbeiten. Auch bei Barbara Ott und Lucia Alessio findet sich eine Vielfalt an
Materialien und Techniken und die beeindruckende Erzeugung von Perspektive auf Stoff.
Daneben spielen Candice Weber und Esther Solanki mit der extremen Verdichtung von
Perlenstickerei und der Auffächerung des Bildrahmens zu dreidimensionalen Formen. Im
Kontrast dazu steht der grafisch-malerische Stil von Claudia Jäggi, Ursula Charwat, Kerstin
Heinze-Grohmann und Esther Haldemann, in dem sich Nadelstiche zu einem zuweilen
filigranen Strich fügen und der sich in einzelnen Werken auch durch seine Flächigkeit
auszeichnet. Mit ihren textilen Kreationen nimmt Assunta Miles ihrerseits eine Auflösung
der Bildfläche im Stickrahmen vor, während Susanne Sterks zarte Gewebe zwischen der
Verdichtung und der Auflösung körperlicher Figuren stehen. Sowohl für Aran Illingworth als
auch für Josephine Sams ist hingegen die Fotografie ein wichtiger Referenzpunkt, wobei sich
bei Sams nicht zuletzt die Eigenständigkeit und weiterzudenkende Realität der textilen Kunst
zeigt, die auch die hier zu sehenden Werke in ihrer Gesamtheit charakterisiert.
Annina Pandiani
Kunsthistorikerin
3. 10. 2020

————————————————————————————————————-

UN/FRAMED

The present exhibition un/framed is a project in cooperation of Vielfaeltig-Produzentengalerie and the not-for-profit organization SwissFiberArts. The project unites the works of 29 artists from 13 countries. The collaboratively organized artists of Vielfaeltig-Produzentengalerie aim to create room for identity, connection and solidarity. SwissFiberArts aims to bring fiber arts back into the spotlight in Switzerland and to conserve the textile know-how of generations. Therefore, both associations initiate and curate exhibitions in regular intervals, are present at fairs and accompany their projects with publications.
But let’s now talk about what the present exhibition here at the Kunstraum is in its totality:
a notably abundant expression of craftsmanship and technical skills within the realms of textile art. The shown pieces testify to the material knowledge of the artists as well as to their awareness of textile traditions. And this awareness, as I see it, becomes distinctly manifest during the process of creating, when the artists have to find a practicable path between craftsmanship and technology. Also, the proximity to textile design and thus the textile industry and it’s questioning sustainability and innovation is apparent.
Aside from the cultural heritage of the textile arts stands free expression and the examination of different artistic movements; and not rarely, the aim is to break the boundaries. If you were to name one attribute of the contemporary textile art shown here in this exhibition, it would be the intermediality of the pieces. While the artists use traditional techniques such as hand embroidery, free-style machine embroidery, bead embroidery, weaving, sewing or crocheting, they include materials such as tree bark, wire and a diverse range of textiles and fibers, which are sometimes painted and sculpted into three-dimensional structures. The feel of the surfaces of these works tell the process of creation needing time and persistence, although many artists work without a previous model. Some of the pieces explicitly tell a story, but also the choices of the materials (such as upcycled fabrics) greatly contribute to the narrative, resulting in pictures of diverse living environments. And I have the impression, that the moment of piercing, connecting and interweaving of the shown art works stands as a symbol for the bond of the artists among themselves.
With high expectancy for individuality, Aušra Merkelytė, Corinne Kühn, Heidi Suleiman, HsingMei Tsai and Maya Lörtscher depict naturalistic concepts. Therein, one finds social criticism, a homage to Chinese paintings or realistic natural sceneries. Flora and fauna play a major role too in the works of Anne Kelly, Barbara Hebel and Ella Richards. In Imogen Rhodes-Davies’ works, there lies a cry for activism as she portrays the problem of the coral bleaching. The intrinsic power of the works of Ayelet Lindenstrauss and Harpa Jónsdóttir stems from the precise translation of nature’s phenomenons. Jen Cable, Jolanda Drukker Murray and Ruth Harris feed on manual and material heritage of their families and thus confer to their works an auto-biographic note. Annette Wels Talsi works with memories and applies butterflies as a cathartic symbol for overcoming mourning. Karina Nøkleby Presttun and Teija Patrikka carry out a positive inversion by processing disposables for ornate cloth.
Barbara Ott and Lucia Alessio work with a broad variety of materials and techniques, creating perspective on fabric. The extreme aggregation accomplished by the bead embroidery of Candice Weber and the diversification of the image frame by Esther Solanki result in three-dimensional shapes. In contrast thereof stands the graphic style of Claudia Jäggi, Ursula Charwat, Kerstin Heinze-Grohmann and Esther Haldemann, where stitches combine to a sometimes filigree line. Assunta Miles creates a breakup of the image surface, and Susanne Sterk’s frail webs stand between consolidation and disintegration of the bodily figure. For Aran Illingworth as well as for Josephine Sams, photography is an important reference. Sams works show the autonomy and the future reality of textile art – which characterize also the shown works as a whole.
Annina Pandiani
art historian
Oct. 3, 2020

 

————————————————————————————————————

Link:

Katalog

Katalog UN FRAMED_